
German Studies Association Conference 2021, Indianapolis (30 Sept 2021)
"Das unbestimmbare Murmeln in der 'Theorie des Films' - Siegfried Kracauers filmontologische Auffassung vor und nach der Emigration"
Zusammenfassung
«Das Leben als solches» lautet der Titel eines kurzen Abschnitts in Kracauers Filmästhetik von 1960, in dem Kracauer die begriffsgeschichtliche Frage nach dem «Leben, als mächtiger Entität» stellt. Kracauer schrieb diesen Abschnitt zusammen mit dem Epilog der «Theorie des Films» kurz vor der Veröffentlichung seines Werkes. Der Text ist Teil der Reflexion über den Filmzuschauer, bzw. die Flmzuschauerin, welche/r im «Zeitalter der Analyse» – so Kracauers Argumentation im Anschluss an Alfred North Whitehead – von einer besonderen Sehnsucht nach Leben bzw. nach konkreter Erfahrung erfasst ist. Diesen Lebenshunger hofft das Publikum im Kino zu stillen, wo es sich in einem Zustand reduzierten Bewusstseins dem Fluss der Dinge und Ereignisse auf der Leinwand hingeben kann. Kracauer geht davon aus, dass die sogenannte "Kamera-Realität" eine ästhetische Sphäre bereitstellt, in der Objekte und Subjekte hierarchiefrei miteinander verkehren. In der "Kamera-Realität" wird das Subjekt durch psychophysische Korrespondenzen eins mit dem Prozess des Werdens der Dinge, die Bilder kommunizieren ohne Sprache und Kategorien direkt mit dem menschlichen Geist.
Der Vortrag skizziert anhand der Leitfigur Charlie Chaplins Kracauers filmontologische Auffassung zu drei verschiedenen Zeitpunkten: Einmal in den 1920er Jahren in Frankfurt, als Kracauer als Journalist und Filmkritiker über die Slapstickkomödien schrieb, dann Ende der 1930er Jahre als Exulant und Kinogänger in Paris und schiesslich Ende der 1950er Jahre als Soziologe in New York, der Chaplins Ausweisung aus den USA als warnendes Beispiel vor Augen hat. Die durch die Quellenlage bedingten Lücken der ontologischen Rekonstruktion werden durch biografisches und zeitgeschichtliches «Murmeln» gefüllt und durch eine Vielzahl an Querbezügen visualisiert.